VON USHUAIA GEN NORDEN

Aus der Traum

Während wir uns mehr als 8 Monate in Chile sehr wohl und sicher fühlten und nur auf sehr nette und hilfsbereite Leute getroffen waren, muss uns unser gesunder Menschenverstand wohl nach und nach abhandengekommen und durch Leichtsinn und Leichtgläubigkeit ersetzt worden sein. Anders können wir uns das, was wir am letzten Mittwoch in San Antonio erlebt haben, im Nachhinein nicht erklären.

Als wir dort an einer Gastankstelle unsere Tankflaschen auffüllen ließen, wurde Wolfgang von einem Mann angesprochen und darauf hingewiesen, dass der äußere Reifen der linken Doppelbereifung ein Loch aufwies. Wir konnten uns beide nicht erinnern, irgendwo entlang geratscht zu sein. Auf dem Reifen waren auch keine Schleifspuren zu sehen. Das kam uns seltsam vor, aber wir nahmen es erstmal so hin, ohne dass bei uns die Alarmglocken läuteten.

Auf dem Gelände der Gastankstelle war auch ein Reifenhändler. Von dort kamen kurze Zeit später 2 Männer mit einem neuen Reifen in der richtigen Größe, allerdings von einem anderen Hersteller. Wolfgang sagte Ihnen, dass wir keinen neuen Reifen brauchten, da wir einen Ersatzreifen dabeihatten, den er montieren wollte. Das sollte in der Werkstatt des Reifenhändlers möglich sein, aber nachdem wir dort in die Halle gefahren waren, hieß es dann plötzlich, es ginge doch nicht, da unser Wohnmobil zu schwer wäre. Ein anderer Mann, der dann dort auftauchte, sagte uns, sein Freund hätte eine Reifenwerkstatt (die heißt in Chile übrigens „Vulcanisación“ und nicht „Gomeria“ wie in Argentinien), in der der defekte Reifen demontiert und sofort repariert werden könnte. Er gab vor, kurz durch einen Telefonanruf sicherzustellen, dass die Werkstatt auch wirklich geöffnet war und bat uns dann, bei uns einsteigen zu dürfen, um uns den Weg zu seinem Freund zu weisen. Dagmar machte den Beifahrersitz frei, setzte sich in die Wohnkabine, und Wolfgang fuhr seinen Anweisungen entsprechend los. In einer Seitenstraße sagte er dann plötzlich: „Oh, die Werkstatt ist ja doch geschlossen“ und schlug Wolfgang vor, rechts auf dem Seitenstreifen anzuhalten und dann bei dem Reifenwechsel zu helfen. Eine richtige Werkstatt war nicht zu sehen, aber in nicht allzu großem Abstand vor uns auf dem Seitenstreifen stand ein PKW, bei dem auch, dem ersten Eindruck nach, am linken Hinterrad hantiert wurde.

Wolfgang ging auf das Angebot ein, hielt an und beide stiegen aus. Dagmar blieb zunächst einmal im Wohnmobil. Wolfgang suchte das notwendige Werkzeug zusammen und holte auch noch eine Plane heraus, weil er beim Abmontieren des unter dem Fahrzeug angebrachten Ersatzreifens nicht direkt auf dem sandigen Seitenstreifen liegen wollte. Dazu musste er erst einige andere Gegenstände aus dem Laderaum entfernen, die er in den Eingangsbereich zur Wohnkabine legte. Als Wolfgang sich unter dem Fahrzeug installierte hatte, reichte der Mann Dagmar diese Teile an, deutete ihr an, dass sie sie aus Eingangsbereich entfernen sollte. Das irritierte sie zwar zunächst, aber sie ging dann doch darauf ein und räumte den Eingangsbereich frei. Kurz darauf meinte er, sie sollte besser aussteigen, da das Fahrzeug aufgebockt war. Auch das irritierte sie, da sie bei früheren Arbeiten an den Reifen immer im Wohnmobil geblieben war. Sie stieg dann aber doch aus, um nicht unhöflich zu erscheinen, wenn er sich um sie sorgte und blieb zunächst vor der Tür stehen. Der Mann verwickelte Dagmar in ein Gespräch über die Reise und schaffte es irgendwie, dass sie mit ihm zu der anderen Seite vom Wohnmobil ging, wo er ihr das Loch im Reifen zeigte. Dagmar sagte ihm, dass sie das Loch bereits gesehen hatte und wollte wieder auf die andere Seite des Wohnmobils gehen, die beiden Türen der Fahrzeugkabine waren unverschlossen und die Tür zum Wohnbereich stand sperrangelweit auf. Aber er redete weiter auf sie ein: Dass wir unbedingt nach Puerto Montt fahren müssten, da es dort so schön wäre. Dagmar sagte ihm, dass wir bereits den Süden Chiles bereist hatten und auch in Puerto Montt und wollte das Gespräch beenden. Er redete weiter auf sie ein,  ging dann plötzlich zur Fahrertür, öffnete sie, schaute hinein und schloss sie wieder. Dagmar ging zur anderen Fahrzeugseite, er folgte ihr und sagte, er wolle mal nachsehen, warum die Werkstatt seines Freundes geschlossen war. In dem Moment fuhr der PKW, der vor uns stand los. Der Mann ging in dieselbe Richtung und ward nicht mehr gesehen.

Als Dagmar ins Wohnmobil einstieg, bemerkte sie, dass ihre Schultertasche fehlte. Sie rief Wolfgang, und er stellte fest, dass auch seine Tasche sowie sein Tablet fehlten. Dass veranlasste Dagmar nach ihrer Laptoptasche zu sehen, aber die war, wie zu erwarten, auch weg. Mit den Schultertaschen verschwanden unsere Reisepässe mit den Einreisedokumenten, eine Kopie des Fahrzeugscheins, Dagmars Fahrzeugschlüssel, ihr Führerschein, ihre Kreditkarten, ihre Sonnenbrille, ein Portemonnaie mit ein paar Pesos und ihre SIM-Karten von Movistar für Argentinien und Chile sowie anderer Kleinkram. In der Laptoptasche befanden sich neben dem Laptop und der Maus, ihr Tablet sowie 4 externe Festplatten, eine davon mit dem Backup unserer Fotos. Damit war nicht nur die Hardware weg, sondern auch so gut wie alle Fotos, die wir auf unserer Reise gemacht hatten. Ein Zettel mit ihren Passwörtern war nicht in der Laptoptasche, aber praktischerweise in der verschwundenen Schultertasche. Wer das liest, denkt sicher: Wer sich so leichtsinnig verhält, hat es eigentlich nicht anders verdient. Das sahen und sehen wir ganz genauso.

Gott sei Dank waren Wolfgangs Laptop und unsere Handys noch da, sonst wären wir völlig aufgeschmissen gewesen.

Wir beschlossen den Reifen nun doch nicht zu wechseln und blieben noch eine Weile fassungslos im Auto sitzen. In einem der Vorgärten neben unserem Wohnmobil stand ein Mann und in einem anderen eine Frau. Beide beobachteten uns. Nach einiger Zeit kam die Frau zu uns und fragte, ob wir Englisch sprächen und ob sie uns irgendwie helfen könnte. Als wir bejahten, holte sie ihre Tochter, die ziemlich gut Englisch sprach.  Wir erzählten, was vorgefallen war. Die Frau hatte das andere Auto kommen sehen und meinte, neben einer Fahrerin noch zwei Männer im Wagen gesehen zu haben. Sie bot an, die Polizei zu rufen, damit wir den sie den Vorfall aufnehmen konnten. Sie rief mehrfach sowohl die Carabiñeros als auch die PDI (Policía de Investigationes) an und sagte uns, dass entweder die einen oder anderen kommen würden.

Wir nutzten die Zeit, um die abhanden gekommenen Kreditkarten sperren zu lassen. Silke und Marita, die wir über den Vorfall informiert hatten, halfen uns dankenswerterweise dabei.

Die junge Frau blieb die ganze Zeit bei uns am Wohnmobil und sagte uns, dass es in San Antonio sehr gefährlich wäre, wir aber Glück gehabt hätten, nicht früher dort hingekommen zu sein, denn in den Tagen zuvor hatte es in San Antonio heftige Krawalle gegeben. Sie meinte, je weiter man in den Norden von Chile komme, desto gefährlicher würde es, nicht nur für Touristen, sondern auch Chilenen würden immer wieder ausgeraubt.

Nach etwa einer Stunde trafen tatsächlich 3 Beamte der PDI dort ein und ließen sich den Tathergang beschreiben. Die junge Frau dolmetschte weiterhin für uns. Die Beamten sagten, wir sollten froh sein, dass uns selbst nicht passiert war.

Dann sollten wir hinter den Beamten her zur Wache fahren. Wir bedankten uns herzlich bei den beiden Frauen und machten uns auf den Weg. Einige der Straßen waren dort steil wie in San Francisco.

Auf der Wache wurde der Vorfall noch einmal ganz genau protokollert. Die PDI-Beamten hatten eine Kollegin hinzugerufen, die sehr gut Englisch sprach, dadurch klappte das ziemlich problemlos.

Die Gastankstelle war videoüberwacht. Die Beamten ließen sich zwischenzeitlich einige Fotos von Autos und Personen schicken, die zu dem gleichen Zeitpunkt dort waren wie wir und legten sie uns dann vor. Den Mann, der uns begleitet hatte, sahen wir darauf nicht, aber Wolfgang erkannte denjenigen, der ihn auf das Loch im Reifen aufmerksam gemacht hatte. Ob eines der Autos, die sie uns zeigten, das war, das während des Diebstahls vor uns stand, konnten wir nicht genau sagen.

Nach etwa 2 Stunden erhielt jeder von uns eine „Constancia Perdida De Documento“, eine Bestätigung, die man benötigt, um einen Ersatzpass beantragen zu können. Auch für die verlorenen Einreisebestätigungen mit Datum vom 08.02.2020 erhielten wir Ersatz.

Wir fuhren dann die 90 km zurück zu unserem Campingplatz und informierten unseren Vermieter Don Enrique über das was, vorgefallen war. Auch er schien geschockt als er die Geschichte hörte, aber sagte uns dann auch, dass wir froh sein sollten, dass uns selbst nichts passiert war. Nachdem wir uns wieder auf unserem Stellplatz installiert hatten, kam Enriques Nichte Karla zu uns und sagte, dass ihr Partner Mechaniker wäre und uns helfen könnte, den kaputten Reifen reparieren zu lassen. Wenn wir zur Deutschen Botschaft nach Santiago fahren müssten, sollten wir ihr Bescheid geben, sie würde uns mit ihrem Wagen dorthin bringen, denn mit unserem Wohnmobil nach Santiago zu fahren, wäre zu gefährlich. Wir tauschten die Handy-Nummern aus und vereinbarten gegebenenfalls über WhatsApp schriftlich zu kommunizieren, denn aus Erfahrung wussten wir, mit Chilenen zu telefonieren klappt gar nicht.

Danach ließen wir das ganze bei Nachos, Guacamole und dem einen oder anderen Glas Wein sacken. Dass wir auf so einen blöden Trick, der schon vor 40 Jahren in der ADAC Motorwelt beschrieben worden war, reingefallen waren, konnten wir einfach nicht fassen. Vielleicht lag es auch daran, dass wir bis dahin auf unserer Südamerikareise bis auf das Erlebnis am Anfang auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums in Tigre/Argentinien ausschließlich nette und hilfsbereite Leute getroffen hatten. Uns wurde klar, dass der Traum von der Fortsetzung unserer Panamericana-Reise für uns besser erst einmal ausgeträumt war, und wir bereiteten alles vor, um unser Wohnmobil Ende November von Zarate aus verschiffen und dann von Buenos Aires nach Hause fliegen zu können.